Schwere Schwerelosigkeit
Was sich für den Sportspringer wie eine nicht enden wollende Winterpause angefühlt hat, war für viele Sprungplätze erbitterter Kampf, um durchzuhalten, und hat für Lehrpersonal und Tandempiloten neben Verdienstausfall auch großen Abstand zu Gästen und Schülern bedeutet. Der größte Teil unserer Absetzpiloten wurde durch die lange Zwangspause im Fallschirmsport ebenfalls an den Boden gefesselt. Umso verständlicher ist die Euphorie jetzt endlich wieder springen und arbeiten zu können – und der überall spürbare Wille, die Sprungstatistik der vorangeschrittenen Saison durch höchste Effizienz auf ein hinnehmbares Maß zu schönen, ist nachvollziehbar. Dort, wo es vor wenigen Tagen noch menschenleer war, herrscht nun wieder reger Betrieb, genau so, wie wir es von Sommermonaten normaler Jahre gewohnt sind. Streckenweise wirkt alles schon fast wieder vertraut, da nur noch die ohnehin gesellschaftstauglich gewordenen Abstandsregeln und Masken an die grauen Tage erinnern. Doch genau hier versteckt sich ein Problem, welches uns förmlich zu überrennen droht – das lässt sich zumindest auf den ersten Blick aus eingegangenen Vorkommnis- und Unfallmeldungen ableiten. Wenn unser Blick gerade nur strikt nach vorn gerichtet ist und wir als oberste Zielsetzung das Aufholen von Verpasstem haben, dann werden wir zeitnah feststellen müssen, dass das Ergebnis ein anderes sein kann, als wir es erwartet haben. Nach einer vorbildlos langen Pause, die das gesamte Springerdeutschland meilenweit von allen Facetten des Sports getrennt hat, müssen wir mehr denn je zuvor alle Sinne schärfen! Denn gerade nach so langer Unterbrechung und entsprechendem „aus der Übung sein“ wird uns alles abverlangt, um nicht die Verantwortung an einer „Nach-Corona-Phase“ zu tragen, die durch vermehrte Vorkommnisse, Unfälle und die Erkenntnis, dass wir unsere Aufholjagd verloren haben, geprägt ist.
Jetzt mag die Wertung der vorangegangenen Zeilen mit Sicherheit durch die verschiedenen Leserperspektiven von Springern, Personal und Betreibern unterschiedlich ausfallen, gerade wenn die ersten Betriebe ohne Auffälligkeiten verlaufen sind. Doch wenn wir genauer hinschauen, dann weiß der Solospringer, dass die Aufregung nach langer Pause größer ist als sonst und kommt ins Grübeln, ob neben sonst geläufigen Handgriffen beim Packen vielleicht noch andere notwendige Fähigkeiten eingestaubt und somit nicht abrufbar sind. Der Tandempilot stellt beim Fertigmachen zum Absprung fest, dass seine sonst passablen Ressourcen anscheinend bereits bei der Einweisung ausgeschöpft waren und ihm wird klar, dass auch sein vertrauter Videomann genug mit sich zu tun hat, der ihn sonst mit Sicherheit spätestens im Steigflug nach der Kopfbedeckung des Passagiers gefragt hätte. Einige der Lehrer werden nachdenklich bei der Beobachtung der anfliegenden Maschine und fangen an zu hoffen, dass es sich bei der kurzen aber intensiven Windböe, die am Boden für Unordnung gesorgt hat, um eine Einzelerscheinung handelt. Sie hoffen, dass es nicht doch die im Flugwetter angekündigten thermischen Winde sind, die den in der Luft befindlichen Schülern gefährlich werden könnten … Und genau aufgrund solcher sich aktuell häufender Ungereimtheiten müssen wir uns gerade jetzt wieder darüber klar werden, dass doch die Sicherheit bei dem, was wir tun, das höchste Gut ist! Aktuell hat jeder in irgendeinem Maße mehr mit sich selbst zu tun als gewöhnlich. Parallel dazu muss künstlich erzeugtem Druck standgehalten werden – egal ob es die Schülerausbildung ist, die doch dieses Jahr endlich abgeschlossen werden soll, der Vercharterer, der Flugstunden sehen will, die Tandemeinnahmen, die Tandempilot und Platz so dringend brauchen … gerade lenkt uns Unzähliges von der sicheren Durchführung unseres Sportes ab. Doch wir können nichts aufholen, was wir verpasst haben. Wenn wir jetzt richtig ranklotzen wollen, muss ein Gerüst existieren, das vom kleinsten Glied an funktioniert. Nur wenn wir alle, beginnend vom Solospringer bis hin zum Platzbetreiber, „fit“ und vorbereitet sind und unsere Aufgaben und die Anforderungen an uns kennen, entstehen die freien Kapazitäten für den Blick nach links und rechts, die zwingend für das Auffangnetz, das uns Sicherheit gibt, erforderlich sind. Jeder Einzelne ist hier bedeutender Teil von dem großen Ganzen und sollte alles dafür tun, mit guter Vorbereitung und mit klarem Kopf zu unfallfreien Betrieben beizutragen. Das Handwerkszeug hierzu, in Form von Schulung, Auffrischung, Training, Einweisung etc. inklusive Erfolgskontrolle hierzu, haben wir uns im Laufe mehrerer Dekaden hart erarbeitet. Potentielle Risikostellen sind uns durch die Auswertung eigener Jahresstatistiken bekannt und unser geschultes Auge ist in der Lage Gefahren zu erkennen. Es erwarten uns also keine unüberwindbaren Hürden, insofern wir nicht völlig blind in eine falsche Richtung laufen und Wesentliches übersehen. Aktuell müssen wir den äußeren Druck, den die lange Pause mit sich gebracht hat, so gut es geht an uns abprallen lassen und ihn dorthin schieben, wo er hingehört und bearbeitet werden kann. Jeder kennt die Gefahr falscher Entscheidungen aus falschen Gründen und weiß, welche fatalen Konsequenzen im Härtefall daraus resultieren können. Sobald wir unseren Blickwinkel erweitern und Gefahren wie das aktuelle Risikopotential durch langes „aus der Übung sein“ erkennen, können wir diese auch abwenden.
Mit den Meldungen von Unregelmäßigkeiten, Vorkommnissen und Unfällen seid ihr in der Vergangenheit nicht nur der Meldepflicht nachgekommen, vielmehr habt ihr damit schon einen wesentlichen und wichtigen Teil zu höchstmöglicher Sicherheit im Sport beigetragen. Viele Zusammenhänge und Häufungen von Problemen gleicher Ursache können erst dadurch besser erkannt und ausgewertet werden. Die Erkenntnisse eben dieser Auswertung geben uns die großartige Möglichkeit binnen kurzer Zeit an passender Stelle mit ausgewählten Maßnahmen gegenzusteuern. Eure Bericht- und Meldementalität kann demnach dafür sorgen, dass Vorkommnisse nicht zu Unfällen werden. Je engmaschiger die Meldekette wird, desto öfter werden wir in den Genuss des Erfolges präventiver Arbeit zur Aufrechterhaltung der Sicherheit kommen. Resultierend trägt dies dazu bei, weniger Zwischenfälle und Unfälle nachbereiten zu müssen.
Da die Meldungen nicht nur zur Pflichterfüllung gegenüber dem Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur erhoben werden, sondern daraus übergeordnet eine immense Wertschöpfung für unsere Gemeinschaft und deren Sicherheit entsteht, sollte das Melden nicht als bürokratischer Akt, sondern als bedeutende Möglichkeit zur Gefahrenabwehr gesehen werden.
In unterschiedlicher Taktung werden die erlangten Erkenntnisse entsprechend ihrer Brisanz künftig auch immer wieder in einer Rubrik des FreifallXpress platziert werden, um von dort aus bestmöglich zurück an die richtigen und wichtigen Stellen zu finden.
Lasst uns die Stärke beweisen, dass unsere einfachste und doch größte Zielsetzung – unfallfreie Sprünge – genauso stressresistent ist wie wir! Lasst uns zeigen, dass wir wissen, was wir tun!
Ich wünsche uns allen eine sichere und sprungreiche Saison – die wir jetzt mit geschärftem Blick für das Wesentliche erobern und zu unserer Saison 2021 machen werden!
Benjamin Ring