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Ein Fallschirm öffnet ja laut alter Sprungplatz-Weisheit bekanntlich immer, wurde er ja schließlich zum Öffnen gebaut. Tatsächlich ist unser Fallschirm so zugeschnitten und vernäht, dass er gar nicht anders kann, als sich zu entfalten, vorausgesetzt, wir behindern ihn nicht daran.

Ob unser Fallschirm öffnet oder nicht steht also nicht zur Debatte, die Frage ist eher – mit welcher Dynamik und welchem Komfort er unsere Freifallgeschwindigkeit reduziert.

In aller Regel bremst unsere Hauptkappe die Fallgeschwindigkeit von rund 200 km/h auf ca. 30 km/h ab. Dies geschieht in einem Zeitfenster von ca. 3 bis 6 Sekunden und einer Öffnungsstrecke von ca. 150 bis 300 Metern. Dabei können G-Kräfte im Spitzenbereich von bis zu 6 g auftreten. Diese Parameter sind natürlich stark abhängig von der Freifalldisziplin, dem Gewicht des Springers und dem verwendeten Fallschirmmuster bzw. der Schirmgröße in sqft und sollen lediglich als Richtwert dienen.

Eine gerissene Mittelzelle auf der Ober- und Unterseite inkl. der innenliegenden Spante sowie beider Stabilisatoren – auch dieser Fallschirm hat sich geöffnet, was aber lief hier falsch?

Am Sprungplatz waren sich alle einig, das ist nicht normal!

Jetzt kommt der Schirm in die Werkstatt und die große Frage bleibt, was ist passiert?

Da ich als Techniker weder beim Packen des Fallschirms noch live bei der Öffnung dabei war, kann man natürlich auch hier nur spekulieren, was aufgrund der Beschädigungen wirklich vorgefallen ist.

Wie beim Aufarbeiten von Kriminalfällen muss man die richtigen Spuren lesen und versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen, um so gut wie möglich nachzuvollziehen, was die Kappe so beschädigt hat.

Als Erstes fiel mir eine ca. 40 cm lange Verbrennung auf der Oberseite links neben dem Label des Fallschirms auf. Verbrennungen sind immer ein Anzeichen für Leinen, die über den Fallschirm gezogen wurden. Hier in diesem Fall an der Hinterkante oben. Ein Blick auf die Steuerleinen bestätigte meinen Verdacht, denn auch diese zeigten Anzeichen von Verbrennungen auf.

Wir sprechen also hier von einem Line-over-Szenario mit den Steuerleinen. Wie kann es also zu einem Lineover kommen und warum sind die Stabilisatoren zusätzlich noch beschädigt?

Die besten und sichersten Öffnungen haben wir, wenn der Fallschirm in der richtigen Sequenz öffnet. Das heißt:

1. Container-Öffnung durch Pilote Chute
2. D-Bag kommt heraus, Leinen schlaufen sich ab
3. D-Bag gibt Kappe frei
4. Luft trifft auf den Slider, dieser reduziert den Luftstrom auf den Fallschirm
5. Fallschirm füllt sich von vorne über die Mittelzelle, Luft wird über die Crossports von innen nach außen verteilt
6. Die Rückseite (Tail) bleibt bis zur vollständigen Füllung mit Luft kompakt und öffnet erst ganz am Schluss

Verlassen wir die einzelnen Stufen dieser Sequenz, durch falsches Packen oder andere äußere Faktoren, nehmen wir massiven Einfluss auf die Öffnungsstrecke und natürlich die Öffnungsdynamik. Gerade Punkt 6 ist ein wichtiger Indikator für Line-over-Szenarien, denn an der Rückseite sind die längsten Leinen, die Steuerleinen,angebracht. Diese haben einfach die Möglichkeit, sich bei nicht vollständig aufgeblasener Kappe darüberzulegen und kreieren somit einen Einschnitt im Profil, den Line-over.

Wenn die Leine im Bruchteil einer Sekunde dann über die sich noch entfaltende Kappe gezogen wird, entstehen durch starke Reibung hohe Temperaturen und somit Verbrennungen am Fallschirmgewebe.

Zusätzlich zu den Brandspuren fällt auf, dass sowohl an der Mittelzelle als auch an den Zellen rechts und links davon sämtliche Nähte überdehnt wurden und sie keine Fadenspannung mehr aufweisen. Das spricht dafür, dass der Schirm wohl sehr schnell geöffnet hat, und deckt sich mit der Aussage des Springers, der nach der Öffnung einige Sternchen auf dem Bildschirm hatte und sich erst mal nicht wirklich bewegen konnte.

Wenn man die Beschädigungen am Stabilisator nun betrachtet und die überdehnten Nähte an den Zellen, liegt die Tatsache nahe, dass man hier eher von einer Explosion als einer Öffnung sprechen kann. Ob nun der Line-over ein Resultat der zu schnellen Öffnung war oder andersherum bleibt Spekulation.

Zu guter Letzt werfe ich noch einen Blick auf die Packmethode des Springers. Dabei fällt mir auf, dass er nach der Sortierung über der Schulter alle 9 Zellen mit richtig viel Schwung nach innen schiebt. Es geht ein richtiger Ruck durch die Kappe, der eigentlich die komplette Vorsortierung zunichte macht, und die 9 Zellen werden direkt hinter dem Label des Fallschirms geparkt. Wenn wir jetzt mal wieder einen Blick auf die richtige Sequenz der Fallschirmöffnung werfen, kann man schon vorsichtig Rückschlüsse ziehen. Der Teil, der als Erstes aufgehen will, liegt direkt neben dem Teil, der als Letztes aufgehen soll …

Ein Fallschirm kann natürlich getreu dem Motto „Wir werfen bei 200 km/h viel Stoff in den Wind“ auch bei absolut richtiger Packweise einmal hart und schnell öffnen, hier liegt aber der Verdacht nahe, dass es auf die Packweise zurückzuführen ist.

Leider haben auch Fallschirme Belastungsgrenzen, die wir überreizen können.

Trotz dieser Beschädigungen hat der Springer die Kappe übrigens problemlos und sicher gelandet, die Löcher und Risse sind erst nach der Landung aufgefallen.
Packt schön und bleibt gesund …

Eure Sepp Bunk / Raphael Schlegel 

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