Nicht aber eigene Fakten.
„Every man has the right to an opinion but no man has a right to be wrong in his facts. Nor, above all, to persist in errors as to facts.“ – Bernard Baruch
Wir kennen sie alle. Mythen und Glaubenssätze, die uns die Welt erklären und eine einfache Ordnung in unsere komplexe Welt bringen wollen: „Schnaps ist gut für die Verdauung“, „Sportarten wie Boxen bauen Aggressionen ab“, „Latein und Mathematik schulen das logische Denken“, „Spinat enthält viel Eisen“ u.v.m. Diese Beispiele mögen eingängig klingen, halten aber einer Wahrheitsprüfung nicht stand. Andere ‘Weisheiten’, ebenfalls weit weg von der Realität, führen zu Verzerrung des Urteils über Sachverhalte (Vorurteile) und münden in der Folge zu falschen Handlungen. In kaum einem anderen Bereich ist dies mehr spürbar als im gesellschaftlichen Kontext, besonders im Umgang mit den Geschlechtern untereinander, der – trotz aller Aufklärung – noch immer stark von Mythen bestimmt wird.
Um etwas mehr Licht in diese gedanklichen Irrläufer zu bringen, möchte ich den fünf häufigsten Narrativen und Glaubenssätzen rund um sexuelle Belästigung messbare Fakten aus der sozial- und sportpsychologischen Forschung gegenüberstellen:
Nur ein Einzelfall?
Immer wieder ist zu hören, dass es sich bei sexueller Belästigung doch eigentlich um Einzelfälle handelt oder zumindest um tolerables Verhalten, das „frau“ doch aushalten könne und nicht zu ernst nehmen sollte.
Laut der repräsentativen Untersuchung ‘Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen’ im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) haben insgesamt 58,2% aller befragten Frauen Situationen sexueller Belästigung erlebt, sei es in der Öffentlichkeit, im Kontext von Arbeit und Ausbildung oder im sozialen Nahraum. Beim Thema sexuelle Belästigung sprechen wir also keineswegs von Einzelfällen.
Die Konsequenzen sexueller Belästigung sind für die Betroffenen oft schwerwiegend. Sie reichen von primären Auswirkungen wie Angst, Unsicherheit, Scham und psychosomatischen Beschwerden bis hin zu arbeitsbezogenen Konsequenzen wie geringeren Karrierechancen durch Leistungsabfall und häufigen Krankenstand. Insbesondere auch durch die Reaktionen aus dem Umfeld (etwa Verharmlosung oder Beschuldigungen) kann es für Frauen, die sexuelle Belästigung offenlegen, sogar zu einer sekundären Viktimisierung kommen, wie z.B. im Fall der Hochspringerin Ariane Friedrich. Sie hatte im April 2012 den Namen eines Mannes, der sie auf Facebook sexuell belästigt hatte, veröffentlicht. Dafür wurde sie anschließend heftig kritisiert, angegriffen, beschimpft und bedroht.
Männer und Frauen gleichermaßen TäterInnen?
Im Widerspruch zu Punkt 1 wird gelegentlich angemerkt, dass sexistisches Verhalten und Belästigung durchaus vorkommen, aber in beiden Richtungen, so dass etwa gleich häufig auch Männer die Opfer und Frauen die Täterinnen seien.
Tatsächlich sind Frauen weit häufiger das Ziel sexueller Belästigung: Etwa 30 bis 50 Prozent der berufstätigen Frauen und demgegenüber etwa 10 Prozent der berufstätigen Männer sind von sexueller Belästigung betroffen. Die Studie SicherImSport kommt zu dem Ergebnis, dass bei sexueller Belästigung ohne Körperkontakt die Betroffenen zu 39 Prozent weiblich und zu 15 Prozent männlich, die TäterInnen hingegen zu 11 Prozent weiblich und zu 88 Prozent männlich sind. Für Frauen gehen drei Viertel der belästigenden Situationen von Männern aus, meist von einzelnen Männern, auch von Gruppen von Männern oder gemischten Gruppen (Männer und Frauen), selten jedoch von Frauen allein. Für Männer geht ungefähr die Hälfte der sexuell belästigenden Situationen ebenfalls von Männern aus (einzeln oder in Gruppen), nur ein Viertel von Frauen und ein Viertel von gemischten Gruppen. Konstellationen, in denen Männer Opfer und Frauen Täterinnen sind, sind damit natürlich ernst zu nehmen, aber vergleichsweise selten. In den weitaus häufigsten Fällen sexueller Belästigung sind die Betroffenen Frauen und die Täter Männer.
Heute können sich Frauen doch wehren!
In Diskussionen wird häufig darauf hingewiesen, eine Frau könne sich doch (heutzutage und überhaupt) ‘einfach’ gegen sexistische Sprüche und Belästigung wehren, und zwar verbal oder – wenn nötig – körperlich.
Forschungen der Universität Bielefeld zeigen sehr deutlich, dass wir bei einer negativen Beurteilung passiven Verhaltens von Belästigungsopfern übersehen, wie schwierig es für eine Frau in der realen Belästigungssituation sein kann, sich zu wehren. So genannte Analogstudien, in denen Frauen zu ihrem Verhalten in hypothetischen Situationen befragt werden, zeigen, dass sie in Bezug auf ihr eigenes Verhalten im Fall einer Belästigung optimistische Fehleinschätzungen vornehmen. Besonders eindringlich zeigt dies eine Studie von Nina Vanselow: Im ersten Teil dieser Studie wurden Studentinnen lediglich befragt, wie sie sich verhalten würden, wenn ein Mitstudent ihnen in einem experimentellen Computerchat wiederholt sexuell belästigende Bemerkungen zusendet (z.B. „Bei deinem Anblick wird meine Hose echt zu eng“); im zweiten Teil der Studie wurden andere Studentinnen dieser Form der Belästigung tatsächlich ausgesetzt. Das Ergebnis: In der hypothetischen Situation gaben knapp zwei Drittel der Probandinnen an, dass sie den Chat sehr schnell abbrechen und sich bei der Versuchsleitung beschweren würden. In der realen Situation tat dies aber nur eine von 78 Teilnehmerinnen, alle übrigen ließen die wiederholten Belästigungen bis zum Ende über sich ergehen.
In einer anderen Studie erfassten Julie Woodzicka und Marianne LaFrance die Reaktionen von Studentinnen auf sexuell belästigende Fragen in einem (scheinbar realen) Jobinterview für eine Stelle als studentische Hilfskraft und verglichen diese mit den vorhergesagten Reaktionen von Studentinnen, die sich das belästigende Interview nur rein hypothetisch vorstellten. Das belästigende Verhalten bestand hier aus drei unangemessenen Fragen, die ihnen der männliche Interviewer stellte (z.B. ob die Bewerberin es wichtig fände, bei der Arbeit einen BH zu tragen). Die Studentinnen, die tatsächlich belästigt wurden, zeigten das typische Verhaltensmuster: 20 Prozent nahmen die Frage ernst; 40 Prozent bemerkten, dass diese Frage für das Interview irrelevant sei, aber alle beantworteten letztendlich alle drei Fragen. Demgegenüber sagten 68 Prozent der Studentinnen, die sich das Szenario nur vorstellten, sie würden in einer solchen Situation die Antwort verweigern, 32 Prozent, dass sie den belästigenden Inhalt ignorieren würden, und 6 bis 16 Prozent, dass sie sich beim Vorgesetzten beschweren oder das Interview abbrechen würden. Darüber hinaus erwarteten die Frauen, in einer Belästigungssituation ärgerlich zu werden, während die tatsächlich belästigten Frauen jedoch Angst empfanden.
Diese Studien belegen, dass Personen in der Regel unterschätzen, wie schockierend die reale Belästigungssituation für Opfer ist und wie viel Überwindung es kostet, sich aktiv zur Wehr zu setzen.
Andere Forschungsarbeiten zeigen, dass eine direkte Konfrontation oder Beschwerde über den Täter oft negative soziale Konsequenzen für die Betroffenen nach sich zieht: Frauen, die sich beschweren, werden negativ bewertet und werden als Querulantinnen oder Spaßbremse angesehen, so dass die Zurückhaltung der Frauen in realen Belästigungssituationen durchaus nachvollziehbar ist. Vor diesem Hintergrund ist es nur ein schwacher Trost, dass negative Rückmeldungen an den Täter tatsächlich zu einem signifikanten Rückgang von belästigendem Verhalten führen können.
„Die will mir doch nur ans Bein p*nkeln!“
In verschiedenen Varianten ist immer wieder die Behauptung zu hören, dass Frauen Vorwürfe sexueller Belästigung erfinden oder aufbauschen würden – so dass Männer zu Opfern werden.
Eine solche Schuldumkehr entspricht weit verbreiteten Mythen, die dazu dienen, durch eine Entlastung des Täters und Schuldzuschreibung an das Opfer den ungleichen Status quo in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern aufrechtzuerhalten (Beispiele: „Männer sind halt so“; „Wenn Frauen sich so aufreizend kleiden …“) Es ist nicht verwunderlich, dass diese Mythen nur zu gut funktionieren. Dass auch Frauen solchen Mythen über sexuelle Aggression zustimmen, mag zunächst verwundern. Die Gruppe um Prof. G. Bohner (Universität Bielefeld) konnte wiederholt zeigen, dass viele Frauen diese Mythen nutzen, um sich selbst von den Opfern sexueller Aggression abzugrenzen („Ich bin nicht so eine“) um damit eine Illusion der eigenen Unverletzlichkeit aufzubauen.
„Sei nicht so empfindlich – das war doch nur Spaß!“
Weiter taucht immer wieder die Behauptung auf, Frauen (oder ‘Feministinnen’) würden die Deutungshoheit über die Frage beanspruchen, was unangemessenes Verhalten sei. Sie würden darunter auch völlig harmlose Dinge fassen, ohne dass es Männern möglich sei, dies nachzuvollziehen oder in sozialen Situationen vorausahnen zu können. Auch hierbei handelt es sich um eine Schuldumkehr: Männer müssen angeblich in ständiger Angst leben, dass ihnen normales, „gut gemeintes“ Verhalten als Sexismus ausgelegt wird.
Befragungsergebnisse zeigen, dass sich Männer und Frauen weitgehend einig darüber sind, welche Bemerkungen oder Witze in einer Interaktion vom Gegenüber als sexuell belästigend und unangenehm wahrgenommen werden. Von 58 getesteten potenziell belästigenden Bemerkungen und sexistischen Witzen schätzten Männer und Frauen alle übereinstimmend als belästigend und unangenehm ein (zum Beispiel „Bei deinen Kurven würde ich ja auch gerne mal einbiegen“ oder „Warum gibt es Frauenparkplätze? Damit die Autos der Männer nicht beschädigt werden“); Männer fanden lediglich vier der Witze lustiger als Frauen, wobei den Männern aber dennoch bewusst war, dass die Witze sexistisch und unangenehm sind.
Es ist also keineswegs der Fall, dass es unterschiedliche Meinungen dazu gibt, was belästigendes Verhalten ist und was nicht: Auch Männer haben ein gutes Gespür dafür und wären durchaus in der Lage, sich eine anstößige Bemerkung zu verkneifen.
Sexuelle Belästigung kann dementsprechend auch nicht darauf zurückgeführt werden, dass Frauen überempfindlich seien und Männer eigentlich in guter Absicht handeln. Vielmehr stimmen Männer und Frauen weitestgehend überein, wenn es um die (Un-)Angemessenheit bestimmten Verhaltens geht. Männer, die sich trotzdem unangemessen verhalten, tun dies aus Rücksichtslosigkeit oder Feindseligkeit – in jedem Fall aber tun sie es in aller Regel wissentlich.
So weit die Fakten, die wir als solche zur Kenntnis zu nehmen sollten. Tun wir es nicht, werden Betroffene ungenügend gehört, ihre Nöte nicht ernst genommen und in der Folge die Verursacher geschützt. Wenn verbale Belästigung toleriert oder nicht ernst genommen wird, kann dies ein Umfeld schaffen, in dem solche Verhaltensweisen als akzeptabel angesehen werden. Dies kann dazu führen, dass Täter ermutigt werden, ihre Grenzen weiter zu überschreiten, da sie keine Konsequenzen befürchten müssen. Für die Betroffenen bedeutet ein solches Klima der Duldung eine Bedrohung, sie können sich nicht sicher fühlen. Es kann auch das Vertrauen in die Institutionen und Organisationen, die für den Schutz aller ihrer Mitglieder verantwortlich ist, untergraben.
Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig, klare Regeln und Maßnahmen gegen jede Form der Belästigung zu etablieren, um ein Umfeld zu schaffen, in dem Betroffene sich ausreichend sicher fühlen, Vorfälle zu melden.
Wir Fallschirmsportler investieren sehr viel Zeit und Mühe, um unseren schönen Sport in der Luft noch sicherer zu machen. Die Bodenzeit, die ebenso zu unserem Sport dazugehört, sollte genauso sicher sein – für alle.
Gerda Klostermann-Mace
Quellen:
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