Anzeige

Die Frauen-Weltrekord-Versuche von „Project 19“ waren eins der Highlights meines Lebens! Sie fanden in Eloy, Arizona, vom 20. bis 26. November 2022 statt. Die Organizers waren Amy Chmelecki und Sara Curtis. Insgesamt kamen 120 Frauen aus 23 Ländern zusammen, um eine 100er Formation zu fliegen. Ich nahm als einzige Deutsche und als Zweitjüngste teil. Die Einladung dafür hatte ich im September bekommen, durch ein „Tryout“ in Schweden beim Vector Festival im August 2022. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht viel über den geplanten Weltrekord und hätte mir damals gar nicht vorstellen können, dass ich überhaupt drüber nachdenken würde, dort teilzunehmen. Dies in Erwägung zu ziehen, wurde mir dadurch möglich, dass die Teilnahme am Rekord gesponsort wurde.

Der Hintergrund von „Project 19“ ist, dass das Women Skydiving Network (WSN) Frauen weltweit motivieren möchte, große Träume zu verwirklichen und ein mutiges Leben zu führen. Das 19. Amendment, die Verfassungsänderung der Vereinigten Staaten, welche den Frauen das Wahlrecht einräumte, wurde am 18.08.1920 bestätigt. Deshalb wollte man das Projekt mit 100 Frauen im Jahr 2020 durchführen, was jedoch auf das Jahr 2022 verschoben werden musste.
Mit großem Respekt und der Erfahrung von 700 Sprüngen und meiner zuvor größten Formation von 20 Springern aus einem Flieger, war es die bisher größte Herausforderung meines Lebens. Aber ich war mit voller Überzeugung bis zum Ende dabei und habe mein Bestes gegeben. Durch viel Motivation und guter Zusprache von meinen Freunden meiner Home Dropzone Marl, super Tipps und gemeinsame Sprünge mit Philipp Exner und großartige, immer wieder unterstützende Freunde aus Fehrbellin sowie aus meinem geliebten Airberlin Team, konnte ich letztendlich gestärkt und mit Vorfreude nach Arizona fliegen. Sobald ich nach schwieriger Anreise mit verpassten Flügen und Nachtstrandung in Chicago während eines Schneesturms am Samstag endlich an der Dropzone ankam, machte ich erst mal ein paar Sprünge, um alles kennenzulernen und mich auch mit der Landung in der Wüste vertraut zu machen. Vor Ort war alles neu und spannend und es war schön, einige bekannte Menschen wiederzusehen.

In Skydive Arizona ging es am ersten Tag (Montag) mit einigen Warm-up-Sprüngen der Sektoren in 20er Gruppen und mit Tunnelfliegen los. Die 40er Basis trainierte währenddessen die Basis zu launchen, sie ruhig und effizient zusammenzufliegen. Der erste Sprung des Tages verunsicherte mich, es lief nicht nach Plan und ich kam nicht zu meinem Slot, die Basis drehte und die Formation flog so langsam, wie ich es gar nicht gewohnt war. Dann schwirrten mir die Gedanken durch den Kopf und ich machte mir Sorgen über den nächsten Tag, über die nächsten Sprünge. Es war aber schließlich der erste Sprung, viel Aufregung mit dabei, dann hieß es einmal tief durchatmen und in sich vertrauen. Erst mal gingen wir in unseren Pods Tunnelfliegen, dann machten wir zwei weitere Warm-up-Sprünge und es lief perfekt. Wir alle waren nach ausführlichen Briefings und einem finalen Meeting in unserem Selbstbewusstsein gestärkt und mental bereit für die ersten Großformationen am nächsten Tag. Abends ging ich jedoch mit großer Aufregung schlafen und konnte noch nicht realisieren, dass wir in zwölf Stunden mit 100 Leuten in der Luft zusammenfliegen würden.

Am zweiten Tag (Dienstag) legten wir also direkt mit 100 Frauen aus fünf Fliegern los. Die Bank trainierte auch während der ganzen Woche mit 20 Frauen und machte täglich meistens die Anzahl an Sprüngen wie die Großformation. Wir gingen auf 19.000 Fuß hoch, fast 6.000 Meter und ab 4.000 Metern bekam jeder über einen Schlauch Sauerstoff. In den letzten Minuten vor dem Exit machte ich im Flieger immer ein bisschen Kopfrechnen, um mich selbst zu kontrollieren. Den Steigflug über visualisierte ich den Sprung von Anfang bis Ende aus verschiedenen Perspektiven und konzentrierte mich auf die Atmung, um meine Aufregung und Nervosität etwas herunterzufahren. Sobald es für den ersten Sprung losging und wir im Flieger saßen, war ich absolut konzentriert. Ich verspürte zwar etwas Kribbeln im Bauch, war jedoch die Ruhe selbst, wie ich es bei keiner Prüfung in der Uni je erlebt habe. Ich fragte mich im Flieger tatsächlich, wo denn meine Nervosität bleibt.

Wir machten fünf Sprünge, alle ohne Griffe zu nehmen, bis auf die 40er Formation. Mein Slot war ein Dive Slot, Second Stinger an dem Second Pod, hinter dem blauen Pod aus der Basis. Auch die First Stinger durften an der 40er Basis beim dritten Sprung ihre ersten Griffe nehmen. Dadurch flog die Formation „calm and smooth“. Wir konzentrierten uns auf unseren Slot im „Stadium“ und darauf, auf Head-Level zu fliegen (einen Kopf tiefer als die Person vor dir), durch das Zentrum der Formation auf unseren Cross Partner schauend. Diese Herangehensweise wählten die Organizers, damit sich alle Fliegerinnen nicht nur auf den Griff konzentrieren und dadurch Unruhe reinbringen. Der äußere Layer an Fliegerinnen und somit auch ich durften erst bei den beiden letzten Sprüngen des Tages ihren Griff nehmen, die Pod Closer nahmen ihren ersten Griff erst beim fünften Sprung. Dies funktionierte gut und gab uns ein großes Erfolgserlebnis für den Tag.

Am dritten Tag (Mittwoch) schafften wir vier Sprünge und der Großteil kam dazu, einen Griff an der Formation zu nehmen. Hier und da wurden ein paar Fliegerinnen ausgetauscht oder auf andere Positionen gewechselt. Ich behielt meinen Slot vorerst bei und blieb immer im selben Flieger. Wir waren das „Lovely Ladies Trail“ und entwickelten einen Team Spirit, welcher uns in Zeiten unter Druck „an der Luft hielt“. Wir machten große Fortschritte und hatten bereits eine stark fliegende 64er Formation, bei der noch 36 Frauen fehlten, jedoch in unmittelbarer Nähe waren.

Am vierten Tag (Donnerstag) kam uns leider das Wetter in die Quere. Am Morgen machten wir nur einen Sprung bei Eiseskälte. Ich kann mich an meine Gedanken während des Fliegens erinnern – ich hatte meinen Griff, konnte diesen aber aufgrund der Kälte und dem fehlenden Gefühl in meinen Fingern kaum spüren. So kalt habe ich es noch nicht erlebt. Am Abend wurden wie immer die Formationsaufstellungen für den nächsten Tag veröffentlicht, diesmal wurde die Formation gecuttet, alle äußeren Fliegerinnen fielen weg. Nun war klar, die kleinsten Fehler könnten passieren und man war raus, die Organizers wurden nun viel strenger.

Am fünften Tag (Freitag) machten wir erneut fünf Sprünge. Die 70er Formation startete und holte den ersten Rekord. Nun waren 50 Frauen auf der Bank. Weiter ging es mit der 80er Formation, welche ebenfalls erfolgreich war. Alle anderen mussten sich währenddessen auf der Bank beweisen und wurden je nach Leistung nach und nach in die Großformation gezogen. Hier war der Druck nun viel größer, aber ich gab alles, verfiel in keine negativen Gedanken und wollte mich einfach nur in die Großformation zurückkämpfen und bis zum Ende dabei sein. Es hatte sich gelohnt, nach zwei Sprüngen auf der Bank war ich zurück in der Großformation und musste mich weiter beweisen.

Letzter Tag (Samstag): unsere finalen Rekordversuche, ich war zum Glück wieder mit dabei. Gab mein aller, aller Bestes und kam in allen sechs Sprüngen, welche wir an dem Tag machten, in meinen Slot und nahm meinen Griff. Dies war für mich persönlich viel mehr mentale als körperliche Arbeit. Den Weg vom Flieger zur Formation hatte man raus, auch wenn jeder Sprung anders aussah, aber das Prinzip war verinnerlicht und ich musste darüber nicht mehr viel nachdenken. Das Visualisieren im Flieger lief von allein ab.

Der erste und zweite Sprung: Beinahe die 100 geschafft, es fehlten vielleicht zwei oder drei Griffe. Dritter Sprung: Gecuttet wurde auf 97. Nach diesem Sprung öffnete ich meinen Schirm und jubelte. Wir landeten und die Videomänner jubelten ebenfalls, alle feierten diesen Sprung und umarmten sich. Ich hoffte so sehr, dass wir den Rekord nun hatten. Die Judges rätselten sehr lange und wir schwebten in Unwissenheit. Wir mussten jedoch schnell packen, da wir wussten, es könnte sein, dass wir direkt wieder in die Luft müssen. Wir brachen den Rekord erneut mit einem jedoch inoffiziellen neuen Rekord, dem 97er, bei dem sich 96 Frauen gleichzeitig an den Händen hielten! Es handelte sich hier nur um ca. 1/10 Sekunde vor der Separation, da die erste Person begann ihren Griff zu lösen, der letzte Griff einer anderen Person aber erst dann vollständig zu war.

Vierter Sprung: Die Formation wurde gecuttet auf 95. Wieder waren wir fast alle dran. Ich sah aus meiner Perspektive, dass die Formation nicht vollständig war, zwei bis drei Frauen bekamen ihren Griff leider nicht. Auch beim fünften Sprung waren wir wieder nah dran.

Sechster Sprung im Sunset: Die Formation wurde gecuttet auf 89. Meine Emotionen wollten verrückt spielen, aber ich behielt meine Ruhe und Konzentration, nahm entspannt meinen Griff, sah aber trotzdem das Chaos um die Formation herum. Hier wurde klar, alle waren erschöpft, es war genug. Natürlich wäre es schön gewesen, noch einen weiteren Rekord zu brechen, es sollte aber nicht sein. Jeder Rekordflieger wird jetzt wissen, wovon ich hier spreche, wenn ich sage, dass ich froh war, als wir an diesem Tag unseren letzten Sprung hinter uns hatten. Da bin ich ehrlich, am letzten Tag schlauchte es wirklich, die Absetzhöhe, der zusätzliche Sauerstoff, die Wüste mit ihren teilweise harten und schnellen Landungen sowie der Stress durch den Druck, definitiv performen zu müssen, da man nicht diejenige sein wollte, welche es von 100 Frauen als einzige nicht schafft. Hier heißt es, an sich selbst zu glauben, in sich selbst zu vertrauen, ruhig zu atmen, sein 100% Bestes zu geben und sich gegenseitig zu motivieren.

Alles in allem war es für mich ein unglaubliches, unvergessliches Erlebnis und es hat Lust auf weitere Herausforderungen gemacht. Was am Ende zählte, war eben unser starkes Teamwork, das gegenseitige Unterstützen und natürlich die Erfahrung in unserem Sport. Hinzu kam das Allerwichtigste, die Sicherheit, welche in jedem Sprung, bis zur Landung vollständig und bewusst von jeder Person beachtet werden musste – jeder Sprung beruhte daher auch auf viel gegenseitigem Vertrauen. Unser Zusammenhalt und auch das Können der Frauen haben mich tief beeindruckt.

Ob also offiziell oder inoffiziell, der Rekord von 2016 mit 65 Frauen ist vorbehaltlich der Anerkennung durch die FAI jetzt gebrochen, wir haben eine Woche lang unser Bestes gegeben und der offizielle Frauen-Weltrekord liegt nun bei 80!

Danke an alle Menschen, welche Teil dieses Events waren, an meine Freunde weltweit, welche immer an mich glauben, an meinen Verein Fallschirmsport-Marl sowie auch an die Jugendförderung für Luftsport NRW für die Unterstützung!

Anabel Brugger

0 Shares

Categories

Anzeige