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Es ist eigentlich noch früher Morgen, doch schon jetzt ist es sehr warm. Der Himmel ist strahlend blau und wolkenlos. Auf der Dropzone Take Off Fallschirmsport in Berlin-Fehrbellin herrscht emsiges Treiben. Unermüdlich hebt sich die weiß-rote Caravan in die Lüfte und spuckt Menschen an bunten Schirmen aus. Es stehen besonders viele Autos auf dem Parkplatz, Zelte sind aufgestellt, und man spürt: Hier passiert etwas ganz Besonderes. Der Fehrbelliner Sprungplatz ist dieses Jahr vom 16.-19. Juni Austragungsort des Para-TakeOff – ein Event für Fallschirmspringer:innen mit Handicap und in Deutschland das erste seiner Art.
Jürgen „Mahle“ Mühling, Sprungbetriebsleiter des Sprungplatzes Take Off Fehrbellin, ist begeistert: „Das Event ist der Knaller. Jeder verhält sich, als wäre es das Normalste der Welt, es gibt keine Berührungsängste und das ist für mich der Inbegriff von Inklusion.“ Gemeinsam mit Rainbow und der Universität Dresden entwickelte Mahle um die Jahrtausendwende ein Gurtzeug, mit welchem auch auf den Rollstuhl angewiesene Personen Tandemsprünge absolvieren können. Das Passagiergurtzeug interagiert mit der Kombi und kann mit jedem Tandemsystem benutzt werden – so kommt auch auf diesem Event jeder der Teilnehmenden in den Genuss des freien Falles.
„Wir möchten zeigen, dass es überhaupt keine Rolle spielt, welche Behinderung jemand hat. Es gibt hier einen Platz für alle“, erklärt Stefan Tripke. Stefan (49) ist schon seit 1997 Sportspringer, musste dann aber nach einem schweren Unfall viele Jahre pausieren und springt seit 2015 wieder aktiv mit Handicap. Gemeinsam mit Take Off entwickelte er eine Idee, wie das Springen mit nur einem benutzbaren Arm funktionieren kann. Seitdem hat er über 1000 Sprünge mit Handicap absolviert. Nachdem er schon international auf einigen Events speziell für Springer:innen mit Behinderung unterwegs war und viele positive Erfahrungen und Eindrücke sammeln konnte, wuchs in Stefan der Wunsch, auch in Deutschland ein ähnliches Event auf die Beine zu stellen. Wichtig war ihm dabei, dass es nicht um finanziellen Ertrag geht. Er suchte sich Sponsoren und ehrenamtliche Helfer:innen, sodass die Teilnehmenden sich nur noch um Anfahrt und Unterkunft bemühen mussten.
Nach einigen Verzögerungen durch Corona ist es nun endlich so weit. Die 20 Teilnehmer:innen aus vier Nationen erwartet ein volles Programm: Ankommen und Kennenlernen am Freitag auf der Dropzone und abends gemeinsames Fliegen in der Hurricane Factory Berlin, ein 2er RW-Wettkampf für die inoffizielle Berlin-Brandenburg-Meisterschaft für Menschen mit Handicap und gemeinsame Funjumps zum Abschluss.
Im Tunnel ist gute Stimmung: Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen fliegen gemeinsam und üben für den RW-Wettkampf des darauffolgenden Tages. Doch nicht nur alteingesessene RW-Springer:innen kommen hier zum Zuge: Manche fliegen zum ersten Mal im Windtunnel und werden von den erfahrenen Coaches der Hurricane Factory betreut. Andere haben kaum Sprünge oder Tunnelzeit und freuen sich, von und mit den anderen Grundzüge des Fliegens lernen zu können. Und ein paar fliegen mit den Coaches kopfüber um die Wette.
Am nächsten Tag beginnt der 2er RW-Wettkampf, und es ist beeindruckend zu sehen, wie gut die verschiedenen Menschen und ihre Handicaps miteinander harmonieren. Zwischen den Sprüngen und während der windbedingten Wetterpause herrscht ein reger Austausch. Anschließend kämpfen die Teilnehmenden bei dem von Respekt statt Mitleid e.V. durchgeführten Rollstuhl-Rennen um den Pokal.
Barrieren? Nicht auf diesem Event. „Ich merke in der Springerwelt definitiv einen Unterschied“, findet Stefan Tripke. „Am Sprungplatz kommen Menschen wesentlich direkter auf einen zu und zeigen offen Interesse. Im Alltag merkt man, dass die Barrieren, die in den Köpfen der Menschen stecken, sie davon abhalten, Fragen zu stellen. Sie schauen einen an und platzen vor Neugier. Hier gibt es eine gemeinsame Basis, die uns verbindet. Wenn ich an einen neuen Platz komme, reagieren durchweg alle immer sehr neugierig und positiv und wollen genau wissen, wie mein System funktioniert.“
Das Para-TakeOff verändert den Blickwinkel – während viele der Teilnehmer:innen an ihrem Sprungplatz vielleicht etwas mehr herausstechen durch ihr Handicap, ist es hier völlig normal, viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen miteinander zu sehen. Was vor allem auffällt: Sie alle haben eine Möglichkeit gefunden, mit ihrer Behinderung den Fallschirmsport ausüben zu können. Dies erfordert oft einen kreativen Weg, den sich jeder selbst erarbeiten musste, abseits der regulären Vorgehensweisen. Beispielsweise zeigt eine Springerin, wie sie mit Packbändern die Packgummis durch die Ösen ziehen kann – eine Idee, die übrigens auch für Frischlizenzer:innen gut funktionieren könnte. Ein Springer, der sein Bein ohne Schiene auf dem Erdboden nicht belasten kann, fliegt ohne die Schiene im Tunnel und am Himmel allen davon – statt Sitfly eben Kneefly, aber es funktioniert perfekt. Und Stefan Tripke, Organisator des Events, hat es mit einem ausgeklügelten System geschafft, mit einer Hand beide Steuerschlaufen gleichzeitig bedienen zu können. Schließlich, so erklärt er lachend, kommt das Wort „Handicap“ von „handi-capable“. Und wie viel „capability“ – (deutsch: Fähigkeit) hier auf diesem Event gezeigt wird, ist bemerkenswert: Stefan Tripke stellt einen neuen Weltrekord auf mit der größten Flagge (235qm), die je von einem Menschen mit Handicap gesprungen, im Flug entfaltet, und mit einem Arm gelandet wurde, und nach insgesamt vier Stunden Tunnel, elf Tandemsprüngen und 83 Sportsprüngen, endet das Event mit einer Siegerehrung der ersten inoffiziellen Berlin-Brandenburg-Meister in der Handicap-Klasse für 2er Speed­star und 2er RW. Zum Abschluss noch ein ganz besonderer Sprung mit dem AIRBUS 8way Oceanside Illertissen, dem Deutschen Nationalteam im 8er RW: Ein Speedstar mit vier Teilnehmenden des Para-TakeOff.
Trotz aller Widrigkeiten auf dem Weg der Planung des Para-Takeoff ist Stefan Tripke stolz, das Projekt auf die Beine gestellt zu haben. Vernetzung, Inklusion und einfach eine gute Zeit zu haben – das waren seine drei Hauptziele. Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass alle diese Ziele erreicht und übertroffen wurden. „Vielen von uns ist bewusst, dass wir Menschen nicht sicher wissen können, ob wir morgen noch hier sind“, sagt Stefan. „Ich denke, wir wissen den Wert und die Lebensqualität, die wir aus dem Springen ziehen, wirklich zu schätzen.“ Der Satz „come closer, you can do it“ seines guten Freundes Rikard Mogren, welcher letztes Jahr tödlich verunglückte, war Stefan immer ein Ansporn. Die Offenheit seines Freundes fühlt Stefan auch hier auf dem Para-TakeOff: Hier wird kein Unterschied gemacht.
„In dem Moment, wo ich mich im Luftraum bewege, fühle ich keine Behinderung. Ich habe keine Behinderung. Ich bin fähig zu fliegen, und selbst die Nervenschmerzen sind weg. Das ist das, was ich an dem Sport so liebe“, erklärt Stefan mit einem Lächeln. Ob das Para-TakeOff nächstes Jahr wieder stattfinden wird? Sprungbetriebsleiter Mahle Mühling jedenfalls ist stark dafür: „Wir haben die Infrastruktur und das Know-How. Ich würde es jedes Jahr wieder machen, auch um als Sprungplatz ein Zeichen zu setzen, dass alles möglich ist.“

Nina-Marie Madunová

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