Keiner hat es kommen sehen. Doch plötzlich ist es eine Tatsache: Wir hatten soeben einen Unfall mit Todesfolge an unserer Dropzone! … ach du Scheiße, wir haben doch alles Menschenmögliche getan, damit das nicht geschieht! Wie konnte das passieren? …
Und auch wenn die geschilderte Situation hier fortfolgend rein fiktiv und nicht real ist, so können wir zukünftig alle etwas daraus lernen.
Denn genau ab hier wird sich jemand mit dem „WIE ist das passiert?“ beschäftigen müssen. Nicht zuletzt aus dem rationalen Bedürfnis heraus, die Sache aufzuklären und somit eine Art Verständnis zum Hergang zu entwickeln. Für manche am Ende auch, um mit dem Ereignis irgendwann emotional klarzukommen und dieses zu verarbeiten. Die polizeilichen Ermittlungen hingegen fokussieren sich rein auf die Schuldfrage.
Wenn wir dabei „Glück“ haben, ist die Sache gleich klar. Derjenige hat nichts für eine rechtzeitige Schirmöffnung getan und es wird ein Abschiedsbrief gefunden! Okay, dann ist das so und dann gibt es hier auch nichts mehr aus Fallschirmsicht zu klären.
Was aber, wenn wir plötzlich jemanden unter einer Fehlöffnung, schon viel zu tief, um noch was daraus machen zu können, ziemlich schnell sinkend hinter einer Baumreihe verschwinden sehen?
Jetzt ist nichts klar …
Natürlich leiten wir zuallererst alles Nötige zur Rettungskette ein. Die Hoffnung, dass derjenige überlebt hat, ist zum Greifen nah und wird auch nicht aufgegeben.
An der Unfallstelle angekommen stellt sich jedoch schnell heraus, dass jede Hilfe zu spät kommt. Die Sanis sind noch auf dem Weg. Niemand außer den Ersthelfern ist da. Schweigen macht sich breit, einer fängt das Fluchen an, ein anderer hat Tränen in den Augen.
Alle schauen sich die Tragödie an und wollen binnen weniger Sekunden wissen, wie das passiert ist!
Plötzlich greift jemand zum Trennkissen, das noch an Ort und Stelle ist und zieht daran, weil er wissen will, warum derjenige nicht daran gezogen hat und ob es funktioniert hätte.
Beim Lösen des Dreirings öffnet ein anderer die vorhandene RSL, damit jetzt natürlich nicht die Reserve noch aufgeht, beim Abziehen des Schirms werden derweil Leinen vom Arm des Verunglückten gezogen. Verdammt, das wäre doch gegangen! Wieso …?
In diesem Augenblick nähert sich der Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn. Die Sanis springen raus und machen ihren Job. Sie sagen, es könnte ja noch was möglich sein. Sie zerschneiden das Gurtzeug, lagern den Verunglückten um und beginnen mit der Reanimation. Der Ereignisort verändert sich bis feststeht, was eine Stunde zuvor noch keiner für möglich gehalten hätte.
Ein etwas gefassterer Springerkollege sieht sich inzwischen das Unfallgurtzeug an und fragt sich, warum das AAD eigentlich nicht gefeuert hat. Er sieht, dass das Display nichts anzeigt und wundert sich. Auf der Suche nach einer Antwort schaltet er das Teil an und aus, nur um sicherzugehen, dass es womöglich funktioniert hätte. Aber offensichtlich muss es wohl ausgeschaltet gewesen sein. Oder?
Derjenige, der zuallererst beim Verunglückten war und sich gefragt hat, warum das Trennkissen nicht gezogen wurde, ist inzwischen mit der Situation am Limit und verlässt ohne weitere Worte die Szenerie.
Kurze Zeit später treffen Polizei und Staatsanwaltschaft ein. Es wird schnell klar, dass jemand gefragt werden muss, der sich mit den fachlichen Details auskennt.
Damit erreicht am besagten Tag, wenige Stunden nach dem Unglück, ein Anruf einen der nächstgelegenen DFV-Unfallgutachter.
Dieser erfährt zu diesem Zeitpunkt lediglich, dass jemand offensichtlich verunglückt ist und er für die Staatsanwaltschaft nun entscheidende Fragen klären soll. Die Fahrt zum Unfallort wird drei Stunden dauern.
Der Gutachter weiß zu dem Zeitpunkt nicht, ob die Unfallstelle verändert und damit unter Umständen vergängliche Beweise und Zusammenhänge unwiederbringlich zerstört wurden.
Er hat keine Idee vom Urzustand der Situation beim Auffinden des Verunglückten, solange kein Zeuge dazu etwas gesagt hat.
Er weiß noch nicht, wer etwas vom Unfall gesehen hat oder ob es beispielsweise Foto- oder Videoaufnahmen davon gibt.
Er weiß nicht, ob der Verunglückte kurz vor dem Aufprall noch handlungsfähig war, solange dieses nicht gerichtsmedizinisch untersucht wurde.
Er weiß nicht, inwieweit das Fallschirmsystem technisch hätte funktionieren können, bevor er nicht in aller Ruhe seine Tests daran vollzogen und sämtliche Kausalitäten dazu ermittelt hat.
Er weiß nicht, ob am Ende das AAD im Unfallhergang Relevanz hatte, solange ihm niemand dessen Datenspeicher ausgelesen und erklärt hat. Er weiß dazu nur, dass beispielsweise beim Ein- und Ausschalten eines CYPRES dessen Arbeitsspeicher resettet wird und hier die letzten 40m des vorangegangenen Sprunges datentechnisch verloren gehen. Also wird er das Gerät nicht weiter untersuchen oder bedienen, solange er dessen Speicher nicht persönlich und zusammen mit einem entsprechenden Firmentechniker bzw. einer Software ausgewertet hat.
Das oben Genannte stellt jetzt ganz bestimmt nicht die gesamte Liste aller zu bedenkenden Zusammenhänge dar.
Damit weiß ein Gutachter womöglich von allen Beteiligten zunächst am allerwenigsten, um überhaupt etwas zu einem Unfallhergang zu sagen!
Was er allerdings weiß ist, dass er alsbald mit vielen Fragen konfrontiert sein wird. Nicht zuletzt auch mit Fragen aus der Springerschaft, die ihn in seiner Funktion als Unabhängigen und Unvoreingenommenen kompromittieren werden.
Gerade diese Fragen darf er jedoch per se und im Namen seines Auftraggebers zu keiner Zeit zulassen.
Doch was jetzt? Und wie gibt es denn irgendwann nun Antworten für die Betroffenen?
Ganz einfach: Erst wenn alle Untersuchungen abgeschlossen sind und dann auch nur von der zuständigen Instanz! Letzteres wird im Regelfall aber garantiert nicht der eh schon geforderte Gutachter sein …
Wie wir allerdings als Springerschaft in einem solchen Fall sinnvoll zusammenwirken können, sollen zum Schluss noch diese beachtenswerten Punkte (siehe Kasten) beschreiben:
A) Der Job des Sachverständigen für Sprungunfall-Untersuchungen
- Gutachter kommen nur auf Anfrage und im Auftrag Dritter (Staatsanwaltschaft, Versicherungen, Privatpersonen, etc.)
- Sie können bei jeder Art von Unfall eingeschaltet werden, erhalten einen eindeutig definierten Auftrag und dürfen nicht befangen sein.
- Die Arbeit ist persönlich, weisungsunabhängig, leidenschaftslos und vorurteilsfrei zu erstellen und beruht ausschließlich auf der Faktenlage. Alles, was der Gutachter sieht, wird als gegeben angenommen, es sein denn, es ist dokumentiert, dass etwas verändert wurde (z.B. Brustgurt geöffnet bei Erste-Hilfe-Maßnahmen).
- Gutachter unterliegen einer Schweigepflicht und erstatten Bericht nur an den Auftraggeber.
- Gutachten erzielen nicht immer eindeutige Ergebnisse, dauern durchaus lange und können sehr teuer werden.
B) Wie können die Personen vor Ort die Arbeit des Unfallgutachters unterstützen
- Möglichst nichts verändern (abgesehen von Erste-Hilfe-Maßnahmen), bis die Unfallstelle freigegeben wird. Öffnungsautomat und das Fallschirmsprungsystem nicht auf Funktionalität überprüfen.
- Ereignisort absperren. Bei Regen oder Wind ggf. abdecken.
- Springer und Beteiligte bitten, am Sprungplatz zu verweilen, bis die Polizei eintrifft. Befragung von Zeugen und Sicherstellen von Beweismaterial ist alleinige Aufgabe der Polizei.
- Ggf. selbst Fotos anfertigen, z.B. bevor es zu dunkel wird, allerdings ohne die Unfallstelle zu verändern.
- Keine voreiligen Schlüsse bzw. Vermutungen verbreiten!
- Aussage gegenüber Presse und allen anderen: „Untersuchung läuft – Ergebnis bleibt abzuwarten“. Zuständig ist … (z.B. die Kripo …). Den Namen des Gutachters nicht preisgeben.
- Dem Gutachter Zugang zu allen Dokumenten, Unterlagen etc. gewähren (Gutachter entscheidet, was relevant ist).
- Dem Gutachter keine Fragen zur Unfalluntersuchung stellen, aber alle Fragen beantworten.
C) Sonstiges
- Der Einsatz eines Gutachters entbindet den Sprungplatzbetreiber nicht von seinen Pflichten, wie zum Beispiel die Erstellung der Unfallmeldung an den beauftragten Verband, die Information an die BFU und ggf. die Schadensmeldungen an die Versicherung.
Die Unfallgutachter des DFV e.V.