In den Ausgaben des letzten Jahres ist immer mal wieder der Begriff Stall oder auch Strömungsabriss gefallen. Aus diesem Grund möchte ich in dieser Ausgabe genauer auf den Stall über die Toggles eingehen. Es handelt sich hierbei NICHT um eine Anleitung, sondern ich möchte lediglich beschreiben, was bei einem Stall in Theorie und Praxis passiert.
Um den Stall in der Theorie zu verstehen, schauen wir uns zunächst an einem vereinfachten Schaubild einen Fallschirm im „Normalflug“ an und gehen noch mal auf die Frage ein, warum der Fallschirm überhaupt fliegt:
Die Masse des Springers unter dem Fallschirm wird von der Schwerkraft angezogen und bildet somit den „Motor“ des Fallschirms. Durch die Einstellung des Flächenfallschirms beginnt dieser nach vorne, unten zu gleiten. Dadurch entsteht eineLuftströmung am Kappenprofil, die unserem Fallschirm den Auftrieb verleiht. Vereinfacht lässt sich dies wie folgt erklären:Trifft ein Luftteilchen auf unser Fallschirmprofil, so teilt es sich in zwei Luftteilchen auf. Ein Teilchen, das die Kappe unterströmt, und ein Teilchen, das die Kappe überströmt. Jedes dieser Teilchen hat das Bestreben, sich am Ende des Profils wieder mit genau dem gleichen Teilchen zu vereinen. Das heißt, die Teilchen, die unsere Fallschirmkappe überströmen, müssen diese schneller umströmen als die Teilchen an der Unterseite. Daher entsteht an der Oberseite ein schnellerer Luftstrom und somit Unterdruck (2/3 Sog). An der Unterseite entsteht ein langsamerer Luftstrom und somit ein Überdruck (1/3 Druck).
Verändern wir durch Brems-/Steuerleinen den Anstellwinkel un- seres Fallschirms, so verändert sich auch die Auftriebswirkung:
Das Grundprinzip von Unter- und Überströmung bleibt gleich, lediglich die Auftriebswirkung verändert sich und wir sinken somit schneller/langsamer bzw. wir machen mehr/weniger Vorwärtsfahrt. Dies funktioniert allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: dem Stallpunkt.
Der Stallpunkt ist der Punkt, an dem wir unseren Anstellwinkel so stark verändert haben, dass die überströmenden Lufteilchen dem Kappenprofil nicht mehr schnell genug folgen können, um sich mit den unterströmenden Teilchen zu vereinen. Die Folge: Die Strömung „reißt“ an der Oberseite unseres Kappenprofils ab und der Auftrieb bricht zusammen. Unser Schirm stallt.
Wo sich dieser Punkt bei einem Schirm befindet, lässt sichnicht pauschal beantworten. Er ist bei jeder Springer-Schirm-Kombination anders und hängt von verschiedenen Faktoren wie der Schirmgröße, dem Gewicht des Springers, der Steuerleinen-/Riser- und Armlänge ab.
WIE KÜNDIGT SICH DER STALL ÜBER DIE TOGGLES AN?
An dieser Stelle möchte ich noch mal betonen, dass es sich hierbei nicht um eine Anleitung handelt, sondern ich lediglich das theoretische Wissen vermitteln möchte!
Tasten wir uns in ausreichender Höhe (über 1000m) und nachdem wir uns sicher sind, „freie Bahn“ zu haben, an unseren Stallpunkt heran: Wir ziehen unsere Steuerleinen also vorsichtig und langsam (Achtung: Wir brauchen hierzu mindestens 6 Sekunden!) weiter nach unten.
Merkmal 1: Die Windgeräusche lassen nach und es wird leiser als bei voller Fahrt.
Merkmal 2: Hilfsschirm und Bridle sind nicht mehr komplett gestreckt und fangen an zu schwingen.
Merkmal 3: Die Rückseite des Schirms beginnt sich an den Aufhängungspunkten der Steuerleinen zu verformen. Der Schirm sieht nun nicht mehr rechteckig aus, sondern ist an den Außenseiten nach hinten verformt.
Ab einem gewissen Punkt können wir auch beobachten, dass die verformtenAußenseiten ein wenig anfangen zu „zittern“. Nun befindet sich die Fallschirmkappe unmittelbar vor dem Stallpunkt/Strömungsabriss. Ist dieser Punkt gefunden, ist alles Erforderliche erreicht und die Steuerleinen können langsam und symmetrisch wieder nach oben geführt werden. Der Schirm muss nicht gestalltwerden, um zu wissen, wo sich der Stallpunkt befindet. Jeder Springer sollte jedoch wissen, wie er sich an den Stallpunkt herantastet und wo sich der Stallpunkt seines Schirms befindet.
Für den Fall der Fälle möchte ich den Stall aber in diesem Artikel auch noch be- schreiben. Werden die Steuerleinen an dem oben genannten Punkt noch ein bisschen weiter heruntergezogen, so reißt die Strömung an der Oberseite ab. Die Außenseiten der Kappe klappen vollständig nach hinten zusammen und der Schirm kollabiert:
Häufig hört man die Frage, wie man sich bei einem Stall richtig verhält. Hiergilt auf jeden Fall eines: Ruhig bleiben und die Steuerleinen symmetrisch nach oben führen. Handeln wir hier unsymmetrisch oder ruckartig, besteht große Gefahr, dass wir uns unter unserem Schirm eindrehen. Und das meist nicht nur ein bisschen.
Doch wie weit und wie schnell sollen die Steuerleinen wieder nach oben geführt werden? Dazu ist es wichtig zu wissen, dass der Schirm hinter uns kollabiert. Nicht über uns, sondern hinter uns. Wir befinden uns also zu diesem Zeitpunkt ein wenig in Rückenlage. In diesem Moment heißt es: Steuerleinen langsam und symmetrisch ein Stückchen nach oben führen. Nicht vollständig, sondern lediglich ein Stückchen. Durch unser Gewicht und die Tatsache, dassder Schirm sich während des Stalls hinter uns befindet, entsteht beim Anfahren eine Pendelbewegung. Wir pendeln nach hinten, unser Schirm fährt an. Je weiter wir die Steuerleinen nach oben führen, desto stärker wird auch diese Pendelbewegung. Je stärker die Pendelbewegung, desto unruhiger. Führen wir die Steuerleinen nur ein bisschen (ca. 1/4 Armlänge) nach oben, wird der Schirm auch wieder tragfähig (das war er ja vorhin an diesem Punkt auch). Zusätzlich wird die Pendelbewegung deutlich geringer, als wenn wir die Steu- erleinen ganz nach oben führen oder sogar schnacken lassen. Es dauert nur einen kleinen Moment, bis der Schirm von der kollabierten Position hinter uns wieder in die Position über uns „angefahren“ ist. Handeln wir hier zusätzlich symmetrisch und stellen uns auf das Durchpendeln ein, fahren wir ohne Probleme auch aus einem Stall wieder an.
Ihr wisst nicht, wo sich der Stallpunkt eures Schirms befindet, und wollt euch andiesen herantasten? Sprecht das Ausbildungspersonal an eurer Dropzone an, und ich bin mir sicher, euch wird kompetent weitergeholfen.
Marco Gerlach